Um die Arbeit der Textkritik nachvollziebar zu machen, greife ich zwei Beispiele heraus, mit denen ich selber in letzter Zeit konfrontiert wurde.

Das erste Wort stammt aus 1.Korinther 2,10 und ist von seiner Aussage her völlig unwichtig, denn es wird eine Selbstverständlichkeit durch ein zusätzliches Wort unterstützt. Weil aber niemanden unterstellt werden kann, dass er eine unwichtige Stelle „fälschen" will, eignet sis sich dafür, um zwanglos die Arbeitsweise des „Textus Receptus" zu erkennen. Er ergänzt den ihm vorliegenden Text und versucht, seine Aussage dem Leser oder Hörer deutlicher zu machen. In dieser Stelle offenbart Gott durch seinen Geist dem Paulus etwas. In alten Handschriften fehlt dieses Possessivpronomen (=besitzanzeigendes Fürwort).

Bei der zweite Stelle, nämlich aus 2.Korinther 12,9, werden zwei Worte geändert und sie ist wesentlich wichtiger. Die beiden Worte befinden sich in demselben Teilsatz. Bei dem ersten ist die Veränderung  in zwei griechischen Buchstaben „versteckt". Beim zweiten handelt es sich um die Hinzufügung eines Possessivpronomens (meine Kraft), aber zusammen mit dem um 2 Buchstaben veränderten Verb (=Zeitwort) wird die Aussage des Satzes völlig verändert.

Die Handschriften, die in der kritischen Ausgabe in Form einzelner Buchstaben angegeben sind, schließe ich dem Leser auf und beschreibe sie in einem Satz, damit er sich ein wirkliches Urteil über den Befund des Textes bilden kann. Es ist viel nützlicher, an zwei Beispielen genau zu sehen, wie sich der „Standardtext" nach Nestle-Aland entscheidet und welcher Überlieferung der „Textus Receptus" gefolgt ist, als nur „kritischen Text" in einer unversöhnlichen Spannung zu einem „reformatorischen Grundtext" (den es noch nicht einmal gab!) zu sehen. Daher habe ich diese Seite „Texte zum Lernen" genannt.

1.Kor. 2,10 - eine unbedeutende Hinzufügung

Das Possesivpronomen (Besitzanzeigendes Fürwort) „sein (sein Geist)" bezeugen:

Der Codex Sinaiticus hat es schon in der zweiten Stufe seiner Korrektur. Das ist besonders interessant, denn es lässt sich sehr früh der Einfluss des byzantinischen Reichstextes belegen. Der ursprüngliche Text enthielt das Fürwort noch nicht. Der spätere Korrektor ist durch seine Schrift vom ersten Abschreiber zu unterscheiden. Unter dem Sigel altdeutsches großes „M“ fasst der Standardtext nach Nestle/Aland eine sehr große Zahl von Handschriften zusammen, die dem „Mehrheitstext“, dem byzantinischen Reichstext, angehören.  Neben dem „Mehrheitstext“ bezeugen auch noch andere Handschriften das Fürwort:

Codex Claromontanus aus dem 6. Jahrhundert,

Codex Augiensis aus dem 9./10. Jahrhundert,

Codex Boernerianus aus dem 9. Jahrhundert,

Codex Athous Laurensis aus dem 9. Jahrhundert,

die ganzen lateinischen Handschriften, die syrische Überlieferung, 2 koptische Handschriften (je eine sahidische und bohairische). Dazu kommen noch zwei Kirchenväter.

Für die Auslassung sprechen der einzige überlieferte Papyrus zur Stelle (P 46, indirekt erschlossen durch

2.Kor. 12,9 - ein Text bekommt eine völlig andere Aussage

 Textlicher Befund folgt!

 

Auf der Seite http://problempaul.jimdo.com/problem-paulus/ habe ich diese Stelle bereits angesprochen. Meine Gedanken dazu wiederhole ich mit leichten Veränderungen:

Die berühmte Lutherübersetzung lautet: „Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“. Damit steigert er den Denkfehler des Mehrheitstextes, indem er ein neues Objekt schafft („die Schwachen“), das der Text überhaupt nicht kennt, sondern dieser redet von „Schwachheit“. Ein Text wird konstruiert, der Gott letztlich Willkür und Grausamkeit unterstellt.

Der grobe Fehler in 2. Kor. 12,9 liegt aber nicht bei Paulus, sondern bei den „Verbesserern“. Nach genauer Abwägung möchte ich den 2. Versteil folgendermaßen übersetzen: „denn die Kraft (nämlich Pauli) wird in Schwachheit beendet“. Damit ist Jesus von der Grausamkeit frei gesprochen, Paulus ohne nachvollziehbaren Grund in körperlicher Not zu lassen. Das Verb ist tatsächlich mit „beenden“ zu übersetzen, nicht mit „vollenden“, wie es auch möglich wäre. Paulus ist bei dieser Übersetzung kein Glaubensheld, sondern erbärmlich schwach. Das gefällt dem Mehrheitstext nicht– und in der Übernahme dem „Textus Receptus“. Sie wollten folgende Textvorstellung sicher machen: „denn meine Kraft (nämlich Jesu) wird in Schwachheit vollendet“. Ohne Skrupel werden beim Verb 2 Buchstaben hinzugefügt, die das „vollenden“ als Übersetzung sicher machen, während die nach meinem Verständnis richtige Übersetzung „beenden“ wäre; diese Übersetzung wird durch den Eingriff des TR unmöglich gemacht. Außerdem wird das Possessivpronomen „meine“ zu „Kraft“ hinzugesetzt; damit ist es definitiv die Kraft Jesu und es wird dem Text eine falsche (!) Vorstellung aufgedrückt. Entgegen der Behauptung mancher Fundamentalisten „kürzt“ der Codex Vaticanus nicht den Text, sondern der „Textus Receptus“ „füllt auf“ – an dieser Stelle sogar falsch.

Er produziert einen denkerischen Unsinn, der niemals von Jesus gesagt worden wäre. Jesus ist nämlich nicht am Kreuz hängen geblieben, sondern auferstanden. Für ihn selbst wäre folgende Aussage angemessen: „Meine Kraft ist in der Kraft Gottes vollendet“. Nur 1 Kapitel weiter, in 2. Kor. 13,4, sagt Paulus selbst von Jesus: „Denn wenn er auch gekreuzigt worden ist in Schwachheit, so lebt er doch in der Kraft Gottes". Wegen des Artikels bei dem griechischen Wort für Kraft in 12,9 ein „meine“ zu ergänzen, ist eine künstlich aufgestellte grammatikalische Regel, die mich nicht überzeugt. Man verteidigt in erster Linie den „Textus Receptus“, bei dem das „meine“ expressis verbis hinzugefügt ist. Auch beim Verb sind ja 2 Buchstaben hinzugefügt worden, die das „vollenden“ als Übersetzung sicher machen. Wenn tatsächlich Paulus im Urtext so geschrieben hätte, wie es der Mehrheit (und der „Textus Receptus“) lesen, nehme ich Paulus nicht ab, dass Jesus ihm diese Antwort gegeben hat! Jesus hat einen Aussätzigen aus Mitleid geheilt, obwohl er davon nur Nachteile hatte. Die entsprechende Stelle ist in Mk. 1, 40-45 nachzulesen. Wenn Jesus einen Menschen heilt, obwohl er weiß, dass dieser ihn missbrauchen wird, warum sollte er jemand, den er zur Errettung anderer Menschen gebraucht, mit einem so unsinnigen, grausamen Satz abspeisen.