Vor dem TR:

Handschriften vor dem Textus Receptus erweitern das Blickfeld

Zwar wird gelegentlich ein „reformatorischer Grundtext“ behauptet, aber auch Leute, die das tun, geben in aller Regel die Vielzahl der biblischen Handschriften zu, wenn es auch für sie einfacher wäre, wenn es nur eine Handschrift gäbe(!), die dann ohne irgendwelche Versionen nachgedruckt wurde. Aber das ist eine Illusion und die Realität wird manchmal einfach ignoriert. Frei nach dem Motto „Es kann nicht sein, was nicht sein darf". Erasmus, der die Erstausgabe der griechischen NT herausgab, war nicht übermäßig „fromm", sondern humanistischer Philosoph. Elzevier, der 100 Jahre später den Namen „Textus Receptus“ erfand, war auch an seinem Gewinn interessiert. Gott könnte Wege ohne solche Leute finden, wenn er sein „Wort“ verteidigen müsste. Nur einen ersten Eindruck über wichtige Handschriften vor dem „Textus Receptus“ sollen folgende Zeilen vermitteln:

Joh.14,12-17 nach Papyrus 75 (enthält große Teile von Luk. und Joh.)
Joh.14,12-17 nach Papyrus 75 (enthält große Teile von Luk. und Joh.)

 Papyrus hat geradezu einen magischen Klang!

„Papyrus“ ist zwar ein Wort mit magischem Klang, doch ist damit eigentlich nur etwas über den Beschreibstoff ausgesagt und noch keine Aussage über das Alter getroffen. Allerdings sind alle Papyri Majuskeln. Das bedeutet sie schreiben mit Großbuchstaben, kennen keine Zeichensetzung und belassen keinen Zwischenraum zwischen den Worten. Papyrus ist ein pflanzliches Produkt und billiger als die Tierhäute, die Pergament-Kodizes, die fast von Anfang an bei biblische Handschriften bevorzugt wurden. Mittlerweile wurden über 100 neutestamentliche, griechische Papyri gefunden, von denen die meisten aber wegen ihrer geringen Größe für die Textkritik ohne Bedeutung sind. Wichtig sind die „Bodmer-Papyri“ zu den Evangelien nach Johannes und Lukas, sowie die „Chester Beatty-Papyri“ zu den Paulusbriefen. Zu den „Bodmer-Papyri“ gehört der Papyrus 75, von dem oben eine Probe gegeben wird. Welcher Aufwand musste getrieben werden, um per Hand ein Evangelium abzuschreiben. Aber auch welche Opferbereitschaft zeigt sich hier. Heutige Fundamentalisten unterstellen den Schreibern bewusste Fälschungen, um dem „Textus Receptus“ zu schaden. Es gab überhaupt noch keinen Text, der für „angenommen“ angesehen wurde. Diese Behauptung ist schlichtweg anachronistisch. Die Erfindung des Namens „Textus Receptus“ geschah im Mittelalter 100 Jahre nach Luther. Wenn Fundamentalisten die Mühe erkennen würden, die die Erstellung einer Handschrift verursacht, würden sie solche hirnrissigen Vorwürfe wie Fälschung ohne wirklichen Grund gar nicht erst machen. Aber mit Wissen „vergiften“ sich diese Leute ohnehin nicht.

Der Sinai-Syrer galt als ältester NT-Text!

Der Sinai-Syrer, von dem im folgenden Foto eine Probe gegeben ist, war zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein sehr berühmter Text. Für viele Theologen galt er lange Zeit als der älteste erreichbare Evangelientext. Seit dieser Zeit wurden rund 100 Papyri entdeckt, die aber oft nur aus winzigen Fetzen bestehen. Papyrus ist nicht mehr als ein Beschreibstoff, der durch Tierhäute (Pergamente) ersetzt wurde. Beim Sinai-Syrer handelt es sich um ein Palimpsest, das bedeutet, das Pergament wurde nochmals beschrieben. Der ursprüngliche Evangelientext wurde nämlich abgeschabt und mit Heiligenviten versehen. Mit Galläpfeltinktur hat man diesen ursprünglichen Text wieder sichtbar gemacht, aber den Kodex irreversibel geschädigt. Es wird nicht mehr möglich sein, bessere Lesungen zu erzielen als die alten Herausgeber. Bei dem auf dem Bild gezeigten Anfang des Evangeliums nach Matthäus ist der blasse, untere Text der Evangelientext. Syrisch ist der wichtigste Dialekt der aramäischen Sprache, die - wenn auch nicht unbestritten - für die Muttersprache Jesu gehalten wird. Unseren Übersetzungen des Neuen Testaments liegen griechische Texte zugrunde, aber es ist interessant, in Texten zu lesen, die der eigentlichen Sprache Jesu näher sind, denn irgendwann hat man seine Worte in die griechische Sprache übersetzt. Er dürfte nur selten griechisch gesprochen haben, wie es schon zwanglos Markus 5,41 zeigt, denn Markus überliefert bei der Auferweckung der Tochter des Jairus die aramäischen Worte „Talita kum“, die Jesus gebraucht hat. Es ist deshalb kaum anzunehmen, dass er vor seinen Jüngern, die doch auch Juden waren, griechisch gesprochen hat. Zänkereien um Worte haben ohnehin keine Bedeutung, um dem Glauben näher zu kommen, der das wirkliche Erbe Jesu ist.

Doch zurück zu den griechischen Texten. Berühmte, alte Handschriften aus dem 4. Jahrhundert sind die Codices Vaticanus und Sinaiticus, die zur „alexandrinischen Familie“ gerechnet werden. Sie enthalten neben dem NT auch die Septuaginta, die griechische Übersetzung des hebräischen AT. Die Bezeichnung „Vaticanus“ stammt vom Lagerort in der Vatikanstadt, hat also nichts mit dem Entstehungsort zu tun.

Gegenwärtig unterscheidet die Textforschung 4 „Familien“. Zur „alexandrinischen Familie“ gehören neben diesen beiden Codices auch die Bodmer- und Chester Beatty-Papyri und andere Handschriften. Die „Cäsarea-Familie“ und die „westliche Familie“ erwähne ich nur mit ihrem Namen. Die „byzantinische Familie“, die auch als „Reichstext“ bezeichnet wird, ist aber für die Textforschung wichtig. Seit Kaiser Konstantin wurde diese Textform von Konstantinopel aus gefördert. Der Text sollte gut und leicht verständlich sein, deshalb wurde der Text „geschönt“, wenn Schwierigkeiten im Verständnis des Lesers zu erwarten waren. Diese Familie errang die Vorherrschaft in der byzantinischen Kirche und verdrängte die übrigen Familien. Im Mittelalter war der byzantinische Text verbreitet und wurde auch von Erasmus verwendet, weshalb er letztlich die Basis des „Textus Receptus“ geworden ist. Bei unterschiedlichen Lesarten der verschiedenen Textfamilien versucht der Textkritiker zu ermitteln, welcher Text der ursprüngliche war. Oft ist die „schwierigere Lesart“ zu bevorzugen, denn aus welchem Grund sollte jemand einen Text schwieriger machen, während eine „Verbesserung“ gegen sich selber spricht.

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