Nie wieder Textus Receptus!

Luther wäre glücklich gewesen, wenn er eine heutige, moderne Ausgabe des griechischen Neuen Testaments hätte benutzen können und nicht auf das „Novum Instrumentum omne" des Humanistenfürsten Erasmus von Rotterdam angewiesen gewesen wäre. Aus dieser zeitlich überstürzten Ausgabe aus dem Jahre 1516 - Erasmus wollte nämlich den Ruhm der Erstausgabe haben und einer im Erscheinen begriffenen Polyglotte (=eine mehrsprachige Ausgabe) zuvorkommen - ist der Textus Receptus erwachsen. Die Ausgabe des Erasmus stützte sich auf mittelalterliche Vorlagen, die einen vollständigeren Text aufweisen als einige ältere Ausgaben. Es ist nicht zu erklären, warum jemand einen Text gekürzt haben soll, aber es ist sehr wohl zu erklären, warum in den Evangelien Lesarten aus Parallelstellen der anderen Evangelien eingedrungen sind. Man hat sich an vertraute Formulierungen erinnert, die ohne böse Absicht mit aufgeschrieben wurden. Der Mensch ist eben keine Maschine! Dem Textkritiker im modernen Sinne ist nicht daran gelegen, Fehler in der Bibel aufzuzeigen, sondern er hat die Aufgabe, bei unterschiedlicher Textgestalt zu entscheiden, welcher Text mit höherer Wahrscheinlichkeit die ursprüngliche Lesart enthält. Das ist eine mühsame Arbeit, aber bei den vielen Handschriften, die es gibt, unerlässlich bei der Ermittlung vom Urtext. Der Textus Receptus liegt in Druckausgaben vor und verdrängte auf diese Weise die anderen Textfamilien, aber dadurch, dass man den schlechteren Text druckt, wird er nicht besser. Die Bezeichnung Textus Receptus stammt von einem geschäftstüchtigen Herausgeber über hundert Jahre nach Erasmus (Elzevier 1633), der behauptete, dass der Text von allen angenommen sei. Aus simpler Unwissenheit wird der Textus Receptus immer wieder verteidigt. Es ist faszinierend, mit alten Texten zu arbeiten, die sehr mühsam abgeschrieben wurden, aber heute in Fotos vorliegen. Ich möchte nicht zurück in das Mittelalter!

 

Es wäre aber nicht fair, zu verschweigen, dass der „Standardtext“ (=Nestle-Aland), wie er sich heute für das griechische NT durchgesetzt hat, ein künstliches Produkt ist. Es gibt keine Handschrift, die genau diesen Wortlaut hat. Zwar werden die Codices Sinaiticus und Vaticanus besonders stark berücksichtigt, aber sie können schon deshalb nicht ausnahmslos abgedruckt werden, weil besonders im Vaticanus Textstellen verloren gegangen sind. So wird bei jeder Abweichung isoliert abgewogen, welches mit höchster Wahrscheinlichkeit die ursprüngliche Lesart war. Fehler sind dabei unvermeidlich, aber sie sind schon deshalb für den Bibelleser selten zu bemerken, weil viele Varianten durch die Eigenart einer Übersetzung nicht mehr feststellbar sind. Der „Textus Receptus“ ist selbst ein Kunstprodukt, denn er gibt nicht das „Novum Instrumentum omne“ des Erasmus wieder, sondern wurde nach bekannt gewordenen Varianten korrigiert. Es gibt nicht „den“ Textus Rezeptus, sondern selbst diese gedruckten Texte sind für den nächsten Druck verbessert worden. Der „Textus Receptus“ wird aber den „Geruch“ des byzantinischen Reichstextes nicht los, der nach heutigem Wissensstand die Textfamilie mit dem schlechtesten Text darstellt.

 

Auf der Unterseite rezensiere ich kurz ein Heft, dass angebliche „Urtextkürzungen“ beim „Kodex Vaticanus“ am Textus Receptus moniert und die gegebene Realität einfach verdreht. (Auch diese Rezension hat als ursprünglichen Ort meine „Christliche Heilung“ und ist etwas gekürzt, um Wiederholungen zu vermeiden.) Es gibt noch weitere Bücher, die den Textus Receptus verteidigen und sich dabei auch noch „fromm“ fühlen, obwohl sie nur ihre eigene Dummheit und Unwissenheit zur Schau stellen; aber dieses Heft genügt schon, um es zu zeigen. Rezension: Marcel de la Croix, Ben Kent: Von Gott inspiriert und von Menschen revidiert! Was spricht gegen die modernen Urtextkürzungen der Heiligen Schrift des Neuen Bundes? o.O. 2000.

 

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